Sinneslehre nach Rudolf Steiner im Überblick – Der Kreis der 12 Sinne
Erst wenn ich Lichtes denke, leuchtet meine Seele.
Erst wenn meine Seele leuchtet, ist die Erde ein Stern,
Erst wenn die Erde ein Stern ist, bin ich wahrhaft Mensch.
Auszug aus meiner eigenen Masterarbeit zum Thema „Verhaltensauffällige Kinder in Tiergestützten Interventionsformen“ aus dem Jahr 2010.
Anfang des 20. Jahrhunderts machte Rudolf Steiner innerhalb seiner Bemühungen ein ganzheitliches Menschenbild zu entwickeln erstmals den Versuch, die dem Menschen zur Verfügung stehenden Sinne umfassend zu beschreiben und zu klassifizieren, wobei er schon seinerzeit weit mehr als die damals üblicherweise zitierten aristotelischen fünf Sinne (Sehen, Schmecken, Hören, Tasten, Riechen) berücksichtigte.
Um das Menschsein in seinen Grundzügen verstehen zu können, ist es, nach Ansicht der Autorin, unter anderem notwendig sich mit der Sinneslehre auseinanderzusetzen, da uns unsere Sinne unser ganzes Leben lang begleiten und mehr oder weniger eingeschränkt zur Verfügung stehen. Ohne den Gebrauch dieser Sinne hätte der Mensch keine Ahnung über sich selbst oder seine Umwelt. Er würde in einem ewigen Schlafzustand dahinvegetieren ohne eine Möglichkeit der Entwicklung oder Bewusstwerdung. Erst durch den ständigen Austausch mit der Umwelt erfolgt eine Trennung zwischen dem Selbst und der Welt.
Heutzutage ist sich die moderne Wissenschaft einig, dass es tatsächlich mehr, als die fünf von Aristoteles zitierten Sinnesleistungen gibt. Immerhin spricht man neben visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen und haptischen Wahrnehmungen auch noch von einem Temperatursinn (Thermorezeption), der Schmerzempfindung (Nozizeption), dem Vestibulärsinn (Gleichgewichts-Sinn) und der Tiefensensibilität (Propriozeption), welche neben der Eigenwahrnehmung bestimmter Reize aus dem Inneren des Körpers auch noch den Lage-Sinn (liefert Informationen über die Position des Körpers im Raum und die Stellung der Gelenke und des Kopfes), den Kraftsinn (gibt Auskunft über den Anspannungszustand von Muskeln und Sehnen) und den Bewegungs-Sinn beschreibt. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Tiefensensibilit%C3%A4t [27.12.2009])
Rudolf Steiner beschreibt insgesamt zwölf verschiedene Sinnesleistungen des Menschen, deren Ausbildung, Weiterentwicklung und Pflege schon von Geburt an eine wichtige Rolle spielt. Dr. Michaela Glöckler, Kinderärztin und Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum in Dornach / Schweiz beschreibt die Wichtigkeit der Sinnespflege als Grundlage zur Entwicklung nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer und geistiger Kompetenzen. Nicht nur Selbsterfahrung und Selbstbewusstsein, auch verschiedene Intelligenzleistungen bauen auf einer gut eingespielten Sinnestätigkeit auf, da das Kind, vor allem in seiner frühkindlichen Entwicklung als ganzes, sozusagen sein ganzer Leib auf Anregungen oder Vorbilder reagiert.
Sowohl was die Entwicklung, als auch den Gebrauch und die daraus geschöpften Erkenntnisse und Erfahrungen betrifft, erscheint es der Autorin an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass alle Körpersinne zu jeder Zeit miteinander in einer engen Beziehung stehen. Die Unterteilung in einzelne Sinnes-Gruppen und Sinne erfolgt zum besseren Verständnis der jeweiligen Sinne. Dr. Wolfgang-M. Auer, ein langjähriger ehemaliger Waldorflehrer, welcher heute als Dozent in der Erwachsenenbildung von Lehrern und Erziehern tätig ist, sagt dazu:
„Die Wahrnehmungen der Körpersinne ziehen sich wie ein Kontinuum durch unsere Existenz und geben uns dadurch die Möglichkeit, die Vielzahl der Weltwahrnehmungen miteinander und mit uns selbst zu verbinden, d.h., sie zum Gegenstand, zur Situation, zur Handlung zusammenzufügen. Das bedeutet aber letztlich, dass wir auch dadurch erst in der Lage sind, dem, was wir in der Welt wahrnehmen, eine bestimmte Existenz zuzusprechen. Auch die Körpersinne selbst sind ständig untereinander durch gleichzeitige Wahrnehmungen verbunden. Denn bei jeder körperlichen Bewegung sind Bewegungs-Sinn, Vitalsinn, Gleichgewichts-Sinn und Tast-Sinn beteiligt, besonders wenn wir bei einer Tätigkeit mit Material, Gegenständen oder Werkzeugen umgehen. Und nur wenn das Zusammenspiel der Körpersinne klappt, können wir uns sicher und geschickt bewegen und damit auf die Wahrnehmungen der Weltsinne reagieren.“
Über die Entwicklung des Kindes in den ersten drei Jahren schreibt der Mediziner und Begründer der Camphill – Bewegung Karl König, dass dieser Prozess der Bewusstseinserhellung mit dem „Blicken“ beginnt, sich über das „Greifen“ fortsetzt und einen Höhepunkt im „Gehen“ erreicht. Auch er ist der Ansicht, dass die Sinnesentwicklung niemals getrennt voneinander betrachtet werden darf.
Der niederländische Arzt Dr. Albert Soesman ist der Ansicht, dass die Sinnesorgane die großen Lehrmeister der Menschheit geworden sind, denn obwohl ein jedes seine Sprache spricht, so begreifen und bedingen sie doch einander, will der Mensch eine gesunde Entwicklung durchmachen, und bilden so gemeinsam einen Kreis.
In seinem Buch „Von ängstlichen, traurigen und unruhigen Kindern“ vertritt schließlich der 1951 geborene, am Janusz Korczak Institut arbeitende Heilpädagoge und Schriftsteller Hennig Köhler den Standpunkt, dass es, beschäftigt man sich eingehend mit der Sinneslehre, doch immer um die Beziehung zu sich selbst geht. Unter dem Inkarnations- bzw. Verkörperungsprozess versteht er das „In-Verbindung-treten“ des Seelisch-Geistigen mit dem Physisch-Leiblichen, wobei ein erheblicher Teil dieses Geschehens darauf beruht, dass sich das Kind eine deutliche Wahrnehmungsfähigkeit für die eigenen Leibeszustände im Verhältnis zur Umwelt erwirbt.
In diesem und den anderen Beiträgen rund um die Sinneslehre nach Rudolf Steiner werden folgende Quellen zum besseren Verständnis der Grundlagen der Sinneslehre nach Rudolf Steiner verwendet:
Auer, Wolfgang M. (2007): Sinnes – Welten. Die Sinne entwickeln, Wahrnehmung schulen, mit Freude lernen. – München: Kösel
Ayres, Jean A. (20024): Bausteine der kindlichen Entwicklung. – Berlin: Springer
Glas, Norbert (19944): Gefährdung und Heilung der Sinne. – Stuttgart: J. Ch. Mellinger
Glöckler, Michaela / Goebel, Wolfgang (200817): Kindersprechstunde. Ein medizinisch-pädagogischer Ratgeber. – Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus
Köhler, Henning (20046): Von ängstlichen traurigen und unruhigen Kindern. Grundlagen einer spirituellen Erziehungspraxis. – Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben
König, Karl (1999): Der Kreis der zwölf Sinne und die sieben Lebensprozesse. – Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben
König, Karl (20033): Die ersten drei Jahre des Kindes. – Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben
Lipton, Bruce (20086): Intelligente Zellen. – Burgrain: Koha Verlag
Soesman, Albert (20076): Die zwölf Sinne. Eine Einführung in die Anthroposophie. – Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben
Waschulin, Christine (2009): Tiere in der Waldorfpädagogik – Helfer und Freunde – Wien: Diplomarbeit am Zentrum für Kultur und Pädagogik