Die Leibessinne
Zu den vier Leibessinnen gehören der Tast-Sinn, der Lebens-Sinn, der Eigen-bewegungs-Sinn und der Gleichgewichts-Sinn.
Auer vergleicht die Entwicklung der Leibessinne mit dem Fundament eines Hauses, welches nur dann tragfähig und stabil sein kann, wenn es von Grund auf richtig und mit der entsprechenden Sorgfalt gebaut wird. So, wie ein Haus dem ganzen Menschen Raum zum wohnen bietet, so gibt der menschliche Körper der Seele und dem Geist eines Menschen Wohnraum, wobei die Stabilität dieses Gebäudes bedeutend von der Tragfähigkeit des geschaffenen Fundaments abhängt. Der Bau des Fundaments erfolgt im Wesentlichen in den ersten sechs bis sieben Jahren der Kindheit, Auer nennt dieses Fundament Körpergefühl. Konnte sich das Körpergefühl gut und gesund entwickeln, so kann sich der Erdenbürger in seinem Körper wohl und zu Hause fühlen. Er besitzt dann ein stabiles Fundament für sein Leben.
Diese vier Sinne werden deshalb auch als ‚Leibessinne‛ bezeichnet, weil sich die Eindrücke, die man mit ihnen gewinnt, in objektiver Weise immer direkt auf den eigenen Körper beziehen.
1. Der Tast-Sinn
Das Sinnesorgan des Tast-Sinnes ist die Haut des Menschen, und zwar diejenige, die den Menschen als leibliche Hülle umschließt, genauso wie diejenigen Hautschichten, die sich als Schleimhäute schon fast im Inneren des Körpers befinden. Die Tastwahrnehmung entsteht durch Tastrezeptoren und freie Nervenendigungen, die unter der Hautoberfläche liegen.
Der Tast-Sinn ist jener Sinn, der dem Menschen als erstes zur Verfügung steht. Schon als Embryo im Mutterleib werden Tasterfahrungen gesammelt, die sich in der natürlichen Geburt zu einem sehr eindrücklichen Erlebnis der eigenen Körperoberfläche steigern.
Die Erfahrung der eigenen Körpergrenze ist grundlegend für die positive Entwicklung eines Kindes, da hier erstmals innen von außen unterschieden werden kann. Das Bewusstsein von sich selbst kann sich erst an diesem Grenzerleben langsam entwickeln und ein stetiger Aufwachprozess folgen.
Kommt ein Mensch mittels des Tast-Sinnes mit der Außenwelt in Berührung, so ertastet er nicht nur die Beschaffenheit der Oberfläche, sondern hat gleichzeitig auch immer eine Wahrnehmung der Stelle seines Körpers, die diese Oberfläche berührt hat. Das heißt Außenwahrnehmung bedeutet gleichzeitig Eigenwahrnehmung.
Auer sieht im Tast-Sinn auch kommunikative Eigenschaften, da eine Tasterfahrung keiner anderen gleicht und unterteilt diese in „Berührung“, „Drücken“, und über etwas „Darüberstreichen“. Meist setzt der Mensch alle drei dieser verschiedenen Möglichkeiten ein, und daher ist es ihm möglich, verschiedene stoffliche Eigenschaften gleichzeitig wahrzunehmen. Er ist der Meinung, dass eine Tastwahrnehmung nur dann entstehen kann, wenn der Mensch auf die materielle Welt einwirkt.
Auer schreibt dem Tast-Sinn noch weitere Eigenschaften zu. Erstens einen Gestalt-Sinn, zweitens einen Bedeutungs-Sinn und drittens einen Stil-Sinn. Der Gestalt-Sinn erklärt sich durch das plastische Erleben eines Gegenstandes, von dem etwa taubblinde Menschen im Besonderen profitieren können.
Dabei spricht Auer auch von einem emotionalen Moment, in dem es möglich ist Gefühle eines anderen durch Tasten, oder durch die individuelle Vibration der Bewegungen eines anderen Menschen wahrzunehmen. Ebenso können Gesten, Gebärden oder auch die Gesichtsmimik durch das Abtasten erkannt werden.
Den Bedeutungs-Sinn beschreibt Auer als die Fähigkeit, einen Gegenstand allein durch das Abtasten zu identifizieren. Als Beispiel dafür kann die Blindenschrift, die Louis Braille entwickelte, oder das Fingeralphabet, das Helen Keller aus ihrer Isolation befreite, herangezogen werden.
Auer ist der Meinung, dass dieses Beispiel der Taubblindheit sehr deutlich den Zusammenhang zwischen der Entwicklung kognitiver und sozialer Fähigkeiten mit der Bedeutungsebene des Tast-Sinnes zeigt. Ist es einem Menschen nicht möglich diese Ebene der Bedeutung zu erreichen, und damit die Gedankenwelt in Äußerungen anderer Menschen wahrzunehmen, können diese Fähigkeiten nicht entwickelt werden.
Durch den Stil-Sinn kann lt. Auer die Individualität eines anderen Menschen wahrgenommen werden. Was Auer damit meint, ist nicht nur die Fähigkeit Berührung zu spüren und von wem sie stammt, sondern auch die damit verbundene Intention.
„Das Verhältnis zur Welt und zu den anderen Menschen, das durch den Tast-Sinn entsteht, ist intim und unmittelbar. Es gibt keine direktere Begegnung im Bereich der Sinne als die Berührung. Jede Distanz ist aufgehoben. Das hat zur Folge, dass der Wahrnehmende mit Wahrgenommenen eins wird. Beide müssen sich aufeinander einlassen, müssen die Berührung wollen, oder es entsteht Zwang. Subjekt und Objekt der Wahrnehmung sind hier gleichberechtigt. Aber so direkt und intim wir uns auch begegnen, wir begegnen letztlich nur dem Körper und erst über diesen der Person, die sich mit ihrem Körper identifiziert.“
Aus der Sicht Auers kann es aber auch verschiedene Gründe und Situationen geben, welche die gesunde Entwicklung des Tast-Sinnes und damit die Entwicklung von Eigenwahrnehmung und Grenzerfahrung bei einem Kind hemmen. Er schreibt anschaulich was in der Kinderseele passiert, die keine, oder nicht genügend, positive Erfahrungen mit dem Tast-Sinn verknüpfen kann.
Beginnend bei der Geburt, die ein sehr eindrückliches Tasterlebnis und eine große Grenzerfahrung darstellt, und somit auch als Beginn der Entwicklung des Selbstbewusstseins angenommen wird, stellt Auer dar, dass Kindern, denen diese Erfahrung fehlt, keine Bestätigung ihres Eigenseins erleben konnten, also mit einer großen Verunsicherung das Licht der Welt erblicken.
Auer erwähnt auch Studien die belegen, dass Berührungs- und Tasterlebnisse eindeutig positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben. So kann durch regelmäßige Massagen beispielsweise ein Heilungs- und Entwicklungsprozess, besonders bei Frühgeburten, beschleunigt werden. Sogar für die gesunde Entwicklung des Gehirnes sind Tast- und Berührungserlebnisse von großer Bedeutung.
Für ein Neugeborenes stellt außerdem die Erfahrung des Getragen Werdens ein wichtiges Erlebnis dar, welches Halt und Sicherheit vermittelt und so zur Ausbildung des Grundvertrauens beitragen kann.
Ebenso wird es die Grundeinstellung zum Leben prägen, inwieweit das grenzenlose Vertrauen, das von einem Baby ausgeht, dass es die Umwelt vorfindet, in der es sich optimal entwickeln und heranwachsen kann, gegeben ist, und ob dieses Vertrauen in den ersten Wochen und Monaten durch die gemachten Erlebnisse bestärkt oder zerstört wird.
Bekommt ein Kind nicht genügend konstituierende Berührungen, ist die Entwicklung der Hülle und damit die eigene Begrenzung lückenhaft, wird es in weiterer Folge begleitet von einem Gefühl der Unsicherheit und Angst, was zu taktiler Abwehr, besonderen Berührungsängsten, Einschlafstörungen, zu der ständigen Angst im Stich gelassen zu werden, oder zu totalem Rückzug von der eigenen Oberfläche führen kann. Auer nennt als die verheerendste Ursache dafür Missbrauch, der die verletzendsten Löcher in die eigene Grenze des Kindes reißt. Vor diesem Hintergrund sieht Auer auch die Verzweiflungstat der Selbstverletzungen, wenn durch normale Berührung die eigene Grenze und die eigene Identität nicht erlebt werden kann.
Einen zusätzlichen Aspekt stellt die Vermittlung von sozialen Grunderfahrungen, wie das Erleben von Nähe und Distanz als Folge von menschlichen Berührungsbegegnungen dar. Es ist also deutlich zu erkennen, dass Tast- und Berührungserlebnisse eine wichtige Basis, sowohl für die Entwicklung der Selbständigkeit, als auch für die Entwicklung der Sozialfähigkeit darstellen.
Zusammenfassend können unter Anderem folgende Gründe für eine nicht optimal verlaufene Entwicklung des Tast-Sinnes angegeben werden:
Durch Kaiserschnitt zur Welt kommen
Als Frühgeburt zur Welt kommen
Fehlen des Erlebnisses Getragen zu werden
Keine ausreichende Versorgung der Grundbedürfnisse
Zu wenige Berührungen
Keine adäquate Vermittlung von Hülle und Geborgenheit
Kein ausgeglichenes Nähe- und Distanzverhalten
Dem Kind keine ausreichende Möglichkeit Tasterfahrungen zu sammeln, anzubieten
Körperlicher und / oder seelischer Missbrauch
In weiterer Folge können die Eigenwahrnehmung und die Grenzwahrnehmung gestört sein, was zu einem Mangel an Vertrauen, Bindungsängsten, Offenheit der Welt gegenüber, Identitätsverlust, Verunsicherung, Ängsten, Schlafstörungen und Distanzlosigkeit führen kann, um nur einige zu nennen, wenn nicht in adäquater Form darauf reagiert und versucht wird, die fehlenden Sinneseindrücke auszugleichen.