2. Der Lebenssinn
„Das Sinnesorgan, durch welches sich der Lebens-Sinn ausdrückt, ist das vegetative, oder autonome Nervensystem, welches zusammen mit dem somatischen Nerven-System eine ganzheitliche funktionelle Einheit darstellt. Der Unterschied vom vegetativen Nervensystem zum somatischen Nervensystem liegt darin begründet, dass es keiner willentlichen bewussten Beeinflussung unterliegt. Über das vegetative Nervensystem werden unsere lebenswichtigen Funktionen, wie beispielsweise die Atmung, Verdauung, Herzschlag und der Blutdruck kontrolliert. […] Berücksichtigt man das Prinzip der Funktionsweise des vegetativen Nervensystems, so erkennt man, dass die Wahrnehmung des Lebens-Sinnes über den ganzen Körper ausgebreitet ist und somit die verschiedensten Körperwahrnehmungen und Empfindungen umfassen kann.“
Die Funktion des Lebens-Sinnes ist es, dem Menschen etwas über seine Verfassung und Konstitution mitzuteilen. Dazu zählen alle Wahrnehmungen der eigenen körperlichen Befindlichkeit, wie das Atmen, der Blasendruck, Müdigkeit, oder die Verdauungsvorgänge, ebenso das Gefühl hungrig oder durstig zu sein bzw. zu viel gegessen oder getrunken zu haben.
Neben den elementaren Wahrnehmungen von Hunger und Durst gibt es aber auch noch die schmerzhafte Erfahrung des Lebens-Sinnes. Ohne den Lebens-Sinn wären wir nicht imstande Schmerzen zu fühlen. Soesman sagt über den Schmerz, dass er eigentlich nichts anderes als eine extreme Äußerung des Lebens-Sinnes ist. Außerdem ist Schmerz eine sehr wichtige Erfahrung im Leben eines Menschen, die ihn in vielerlei Hinsicht prägt. Ein Mensch wäre ohne die Empfindung von Schmerzen nicht in der Lage, sich weiter zu entwickeln, denn der Schmerz durchdringt alle Schichten seiner Seele, und gibt ihm auf diese Weise eine Orientierung in seinem Leben. Soesman geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er sagt, dass ein Mensch ohne seinen Lebens-Sinn und das damit auftretende Schmerzempfinden überhaupt nichts lernen würde.
Auer unterteilt die Wahrnehmungen den Lebens-Sinns in ein Spektrum von Wohlbefinden, und die Abweichungen davon ein. An dem Beispiel von Hunger erklärt er den Pendelausschlag, der zwischen dem Wohlbefinden in der Mitte, und den zwei unterschiedlichen Arten der Abweichungen davon entsteht. Ausgehend von der Situation des Frühstücks, welches am Morgen stattgefunden hat, lässt er die Zeit vergehen und beobachtet die unterschiedlichen Stadien des wieder auftretenden Hungergefühls. Zuerst werden nur einzelne Anzeichen wahrgenommen, welche im Laufe der Zeit immer deutlicher werden, und mehr in unser Bewusstsein dringen. Würde ein Mensch jetzt nichts zu sich nehmen, wären die Wahrnehmungen des Hungergefühls immer massiver und drängender und nach einigen Tagen sogar schmerzhaft. Dies entspricht dem Pendelausschlag auf die eine Seite, welche eine von zwei Grenzen der Möglichkeiten aufzeigt.
Auf der anderen Seite isst der Mensch etwas, und während er das tut, kann er auch sehr differenzierte Wahrnehmungen haben. Zuerst weicht sein Hungergefühl einem leichten Sättigungsgefühl, welches immer stärker wird, während er weiter isst. Isst er über die Sättigung hinaus tritt ein Völlegefühl ein, welches sich ebenfalls immer massiver in sein Bewusstsein drängt. Auch hier kann es zunehmend zu einer schmerzhaften Wahrnehmung kommen. Dies wiederum entspricht dem Pendelschlag auf die andere Seite, und der damit verbundenen zweiten Grenze der Möglichkeiten. Diese Polarität, zwischen zwei schmerzhaften Wahrnehmungen, und des Wohlgefühls in der Mitte lässt sich auf jede Wahrnehmung des Lebens-Sinns umlegen.
Zur gesunden Entwicklung des Lebens-Sinnes ist es notwendig, dass ein Kind auch die Abweichungen des Wohlbefindens, also der Mitte kennenlernen muss, da diese Körperwahrnehmung noch nicht sehr ausgeprägt ist. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein Säugling in einem angemessenen Abstand gestillt werden sollte. Wären die Intervalle zu groß bemessen, d.h. würde man das Kind nicht rechtzeitig stillen, dann verbliebe dieses in einem Zustand des Unwohlseins gefangen. Es würde mit seiner körperlichen Existenz, welche es erst einmal kennen muss eine negative Erfahrung verknüpfen, und als Grundprägung eine Antipathie dem eigenen Körper gegenüber in sein weiteres Leben mitnehmen.
Würde man aber auf der anderen Seite die Abstände der Fütterungszeiten zu kurz bemessen, und dem Kind laufend Essen anbieten, ohne dass es das Hungergefühl kennen lernen kann, würde man auf diese Weise ebenfalls verhindern, dass es die Mitte erlebt. Damit würde ein wichtiger Orientierungspunkt fehlen, und in Folge dessen eine Abweichung davon als solche nicht erkannt werden können. Das Kind wäre hilflos von einer Dauerversorgung abhängig gemacht worden, die, einmal unterbrochen, in Unsicherheit und Angst enden würde.
Köhler ist hingegen der Ansicht, dass man nicht auf den Gedanken verfallen darf, dass die eigentliche Bestimmung des Lebens-Sinnes die Wahrnehmung von störenden Vorgängen ist. Vielmehr ist er von unbehaglichen, d.h. zu starken Körperempfindungen beeinträchtigt. Seiner Meinung nach bescheren die ersten grundlegenden Erfahrungen von Ganzheit und Kontinuität einem heranwachsenden Kind das Wohlgefühl eines „In-sich-Selbst-Ruhens“ und die Sicherheit des „Bei-sich-Selbst-Bleibens“, wobei sich mit zunehmender Orientierungssicherheit die Toleranzschwelle für Zustandsveränderungen, die den Erwartungen zuwider laufen, erhöht.
Auer spricht von zahlreichen Störungen, die aufgrund einer suboptimalen Entwicklung des Lebens-Sinns hervorgerufen werden können, wie: Hyperaktivität, Zappeln, Herumrennen, ständiges Reden, Grimassen schneiden, Geräusche produzieren, Hüsteln, Räuspern und andere nervöse Ticks, was sich in weiterer Folge als Erwachsene in einer Reihe von verschiedenen Süchten äußern kann: Unternehmungs- und Kaufsucht, Medienkonsum, Esssucht, Tablettensucht oder Drogensucht, wobei betroffene Menschen auf einer verzweifelten Suche nach Heimat und Maß in ihrem Körper sind.
Lernt ein Kind auch Mangelsituationen auszuhalten, ist dies ein Schritt in die Selbständigkeit. Es kann dann auch angefangene Arbeiten trotz auftretender Müdigkeit zu Ende bringen und das Glücksgefühl und die Befriedigung erleben, die ihm sagen: Ich kann das. Unter anderem werden Durchhaltevermögen und Selbstvertrauen geschult, und dem Kind die Möglichkeit eröffnet, seine eigenen körperlichen Belastungs- und Leistungsgrenzen kennen zu lernen und auch zu überschreiten. Dies bildet, nach Auer, eine der Hauptsäulen späterer Selbständigkeit.
Der amerikanische Zellbiologe P.h.D. Bruce Lipton unternimmt in seinem Buch „Intelligente Zellen“ den Versuch menschliche Verhaltensweisen aufgrund von Erfahrungen die er in seinem Leben sammelt zu erklären, wobei er ganz gezielt die molekularbiologische Ebene der menschlichen Gene mit einbezieht. Sein Ansatz ist dabei die Theorie der Epigenetik, die sehr vereinfacht dargestellt besagt, dass die in jedem Menschen einzigartige Kodierung seiner DNA Struktur nicht die Grundlage der Verhaltensweisen eines Menschen bildet, sondern lediglich verschiedene Möglichkeiten bietet. Die Epigenetik geht davon aus, dass nur jene Teilstücke der DNA gelesen werden können, deren Sequenz nicht durch ein „Schutzprotein“ verdeckt ist. Die Aktivierung des Schutzproteins selber ist aber wieder abhängig von Umweltsignalen, also Erfahrungen, die ein Mensch macht, folgernd kann daher gesagt werden, dass unsere Gene durch diese Erfahrungen gesteuert werden können.
Lipton schreibt im Kapitel über die Biologie der Selbstverteidigung, dass sowohl das Wachstums- als auch das Schutzverhalten in jedem mehrzelligen Organismus, also auch im Menschen, durch das Nervensystem gesteuert werden. Dessen Aufgabe ist es dabei Umweltreize wahrzunehmen, zu interpretieren und eine angemessene Verhaltensreaktion auszulösen. Dabei ist es eine Tatsache, dass das Wachstumsverhalten des menschlichen Körpers zu Gunsten des Schutzverhaltens vernachlässigt wird, wenn es die Situation erfordert.
„Wenn der Adrenalin-Alarm ausgelöst wurde, kontrahieren die Stresshormone die Blutgefäße im Verdauungstrakt, damit das nährende Blut bevorzugt die Arme und Beine versorgt, die uns aus der Gefahrenzone bringen können. Normalerweise ist das Blut eher in den Eingeweiden konzentriert. Wenn es von dort in die Extremitäten geschickt wird, um eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu unterstützen, werden die Wachstumsprozesse reduziert, denn ohne die entsprechende Blutversorgung können die Eingeweide nicht richtig funktionieren. Diese unterbrechen ihre lebenserhaltende Arbeit wie Verdauung, Absorption und Ausscheidung, die für das Wachstum der Zellen und für die Bildung von Energiereserven verantwortlich sind. Die Stress-Reaktion behindert also die Wachstumsprozesse und das Überleben des Körpers, weil sie die Bildung lebenswichtiger Energiereserven stört.“
Er macht mit dieser Aussage nicht nur über den Umgang des menschlichen Körpers mit akutem Stress aufmerksam, sondern in weiterer Folge auch auf das Körper-geschehen, wenn ein Mensch unter permanentem Stress, insbesondere Angst, leidet.
„Die Aktivierung der HHN-Achse (Hypothalamus – Hypophysen – Nebennierenrinden-Achse, körpereigenes System zum Schutz gegen äußere Gefahren) schränkt auch unsere Fähigkeit klar zu denken ein. Die Umsetzung von Information im Vorderhirn, dem Bereich der Vernunft und der Logik, ist sehr viel langsamer als die reflexhafte Aktivität des Hinterhirns. In einem Notfall kann eine möglichst schnelle Informationsverarbeitung möglicherweise lebensrettend sein. Die Stresshormone verengen die Blutgefäße im Vorderhirn und reduzieren damit seine Funktionsfähigkeit. Außerdem unterdrücken diese Hormone die Aktivität der vorderen Großhirnrinde, dem Zentrum des bewussten, willentlichen Handelns. In einer Gefahrensituation unterstützen der Blutfluss und die Hormonwirkung die Aktivierung des Hinterhirns, aus dem die lebenserhaltenden Reflexe stammen, die unser Kampf- oder Fluchtverhalten am wirkungsvollsten steuern. Nun ist es zwar notwendig, dass die Stresssignale das langsame bewusste Denken unterdrücken, um das Überleben zu sichern, das funktioniert aber nur um den Preis einer geminderten bewussten Wahrnehmung und einer reduzierten Intelligenz.“
„Daraus lässt sich schließen, dass das Leben in unserer heutzutage hektischen Zeit enorme Auswirkungen auf unser seelisches und körperliches Gleichgewicht hat. Nicht nur akute Gefahrensituationen beeinflussen unser Wohlbefinden, sondern auch der ständige, auf uns einströmende Druck und die damit verbundene Hektik, welche wiederum in Angst und Sorgen umschlagen, was dazu führt, dass permanent Stress erzeugt wird, bestimmen unser Leben. Lipton konstatiert, dass beinahe jede der weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten mit chronischem Stress in Verbindung gebracht werden kann. Wenn man sich dazu noch vor Augen führt, wie weit diese Symptome in unserer Gesellschaft heute tatsächlich gestreut sind, lässt dies den Schluss zu, dass es einen elementaren Mangel in der gesunden Entwicklung unseres Lebens-Sinnes gibt.“